Hilfstransporte

IceFlower - Initiative für medizinisch-technische Hilfe e.V.

20. Hilfsgütertransport Odessa/Ukraine 2005

Reisebericht

Samstag, 7. Mai 2005

Eine Woche vor der Abfahrt des 20. Hilfsgütertransportes beladen wir auf dem Gelände von Reinhard Pilarski mit Hilfe unserer diesjährigen THW-Crew Klaus Griem, Erich Raabe und Peter Sonnemann die Lkws mit den gesammelten Hilfsgütern.

Es ist doch wieder eine stattliche Menge zusammen gekommen. Der große Lkw ist randvoll (im wahrsten Sinne des Wortes) mit hochwertigen medizinisch-technischen Geräten, der kleine Lkw mit 559 Wichtelpäckchen für Waisen- und Straßenkinderheime in Odessa gefüllt.

Pfingstsonntag, 15. Mai 2005

Um 5:00 Uhr früh starten wir von Hamburg aus zum 20. Hilfsgütertransport nach Odessa/Ukraine. "Wir", das sind in diesem Jahr zwei Fahrzeuge vom THW mit den vier Fahrern Klaus Griem, Erich Raabe, Peter Sonnemann und Walter Piechatzek sowie für IceFlower Dr. Marie-Luise Verspohl und Nina Federmann.

 

Und dann kommt auch schon die erste große Überraschung: Auf der Autobahn in Richtung Berlin wartet an der Raststätte Schaalsee Reinhard Pilarski, um mit uns schweren Herzens (er wäre so gerne mit uns auf Fahrt gegangen) mit einer gekühlten Flasche "IceFlower"-Prosecco auf das Gelingen dieser Fahrt anzustoßen und uns viel Glück zu wünschen. Wir sind gerührt und es tut uns wirklich leid, dass er in diesem Jahr zum 1. Mal nicht mitfahren kann.

Im Regen fahren wir weiter. Die Temperaturen sind kaum anders als letztes Jahr im März. Kurz vor Berlin steht eine Person auf einer Autobahnbrücke und winkt uns zu. Nina fragt, was einen erwachsenen Menschen dazu treiben kann, am Pfingstsonntag in aller Herrgottsfrühe freiwillig im Regen zu stehen und Autos zuzuwinken. Wir sind alle überzeugt, dass es nur ein krimineller Steinewerfer oder ein Irrer sein kann. Zehn Minuten später überholt uns dieser kriminelle Irre und entpuppt sich als Micha aus Hannover, der unter dem IceFlower-Tour-Entzug so leidet, dass er uns wenigstens für zwei Tage gen Osten begleiten möchte.

An der Grenze Frankfurt/Oder bekommen wir dann das totale Kontrastprogramm zum letzten Jahr geboten. Hat es letztes Jahr noch sechs Stunden gedauert, so sind wir nun - dank EU-Osterweiterung - in fünf Minuten durch.

Auf der zunächst noch sehr gut ausgebauten Autobahn geht es in Richtung Warschau weiter. Typische Begrüßung im Ostblock: rechts und links Night-Clubs, Bordsteinschwalben und ansonsten nur Natur pur.

Einen Großteil der Strecke können wir auf einer nagelneuen, perfekten Autobahn zurücklegen, die uns allerdings für alle drei Fahrzeuge zusammen 213,- Zloty kostet, d. h. ungefähr 53 Euro (zuzüglich der ohnehin für Polen zu zahlenden Straßenbenutzungsgebühr in Höhe von insgesamt 92,- Zloty, d.h. ungefähr 23,- Euro (für zwei Fahrzeuge für zwei Tage). Dafür haben wir sehr viel Zeit gewonnen und auch weniger Stress gehabt, denn runter von der Autobahn auf den polnischen Landstraßen ist wirklich die Hölle los. Zum einen "segelt" man mit den Autos auf diesen unebenen Straßen und zum anderen sind die Überholmanöver der Pkws und Reisebusse sehr risikoreich, um nicht zu sagen kamikazemässig. Einen ums Leben gekommenen Motorradfahrer sehen wir noch zwischen den Rädern eines Lkws liegen.

Gegen Abend hat es dann auch endlich aufgehört zu regnen, die Sonne hat sich durchgesetzt und wir fahren in wunderbarem Abendlicht auf der Umgehungsstraße südlich an Warschau vorbei. Wir beschließen, im Gewerbegebiet von Warschau ein Hotel zu suchen. Da es ja länger hell ist, sollte es auch kein Problem sein, denken wir jedenfalls. Über eine Umgehungsstraße (Lkws dürfen nur bedingt nach Warschau rein fahren) geraten wir auf eine Nebenstrecke und Hotels sind hier weit und breit nicht in Sicht! Langsam wird es immer dunkler. Nina und Micha fahren mit dem Pkw als "Hotel-Suchtrupp-Vorhut" voraus. Dann endlich, gegen 21:30 Uhr doch noch ein Erfolg: Zwischen Warschau und Radom, Richtung Süden, an der B77 gelegen, findet sich eine gut-bürgerliche Lokalität mit äußerst traditionell-rustikalem Ambiente des Landes: Holzfiguren, kleiner See, Holzbänke, Akkordeon-Musik und ein hervorragendes Frühstück am nächsten Morgen.

Pfingstmontag, 16. Mai 2005

Abfahrt gegen 9 Uhr: Micha wird uns noch bis Radom begleiten und dann gen Westen und Heimat abdrehen müssen, offensichtlich schweren Herzens. Die Sonne scheint, es verspricht ein schöner Tag zu werden und wir hoffen, dass heute das große Unternehmen des Grenzübertritts dem Wetter entsprechend äußerst harmonisch und schnell verlaufen wird. Ahnungslose, die wir waren...

Zunächst ließ sich alles auch noch gut an. Um 16:00 Uhr waren wir in Hrebenne, der polnischen Grenze. Trotz einer mittelmäßigen Schlange sind wir frech mit unseren Fahrzeugen rechts dran vorbei gezogen. Die Autos sehen zu 80 % aus, als wenn sie Teilnehmer eines Crash-Car-Rennens gewesen wären. Alle machen uns aber höflich Platz. Mit den zwei blauen THW-Fahrzeugen und uns allen in der blauen Uniform mit den gelben Leuchtstreifen wirken wir schon an der Grenze deutlich auffällig.

Dank des polnischen Schreibens von Herrn Walde konnten wir sehr schnell unser Anliegen vortragen. Wir kamen entsprechend zügig an die Reihe und dank Ninas blauer Augen, gemeinsamen fröhlichen Lächelns aller Tourteilnehmer und schokoladeüberzogener Pfefferminzbonbons sowie Holsten-Kugelschreiber auch komplikationslos abgefertigt. Innerhalb einer Stunde waren wir mit beiden Autos aus Polen raus.

In dieser Euphorie meinten wir, dass es auch unbedingt so weiter gehen müsse. Auch dies ließ sich zunächst ganz gut an. Dann kamen jedoch die großen Probleme: Zum einen muss ein ukrainischer Spediteur sämtliche Positionen auf der Ladeliste mit einer Codenummer versehen, die die Angestellten stundenlang in zwei dicken Büchern suchten und zum Teil nicht finden konnten. Parallel dazu haben wir versucht, den Zoll für die Autos abzuwickeln: Obwohl wir für den kleineren Lkw kein CMR-Papier haben, er auch nicht wie der große Lkw verplombt ist und wir über den Inhalt der 559 Wichtelpakete keinerlei Angaben machen können, gibt dies wider Erwarten keinen Anlass für Beanstandungen. Vielmehr fehlt uns ein Papier, welches die Einreise von Lkws in die Ukraine gestattet (Carnet TIR) (was wir nach mehrstündigen Verhandlungen mit Händen und Füßen von den lediglich russisch sprechenden Zollbeamten herausbekommen). Uns wird angeboten, dieses Papier für 250,- Euro hier an der Grenze zu kaufen (in Deutschland kostet es angeblich eine Gebühr von 10,- Euro).

Da helfen weder gute noch böse Worte, kein Marzipan und keine diversen anderen Korruptionalien weiter. Auch mit zahlreichen Telefonaten nach Odessa kann in der Nacht nichts mehr erreicht werden. Die Grenzbeamten hier in Rava Ruska sind wesentlich netter als im letzten Jahr bei Medina und zeigen uns auch ihre Hilfsbereitschaft und ihr Entgegenkommen. Es ist auch klar, dass sie das Geld nicht für sich selber einstecken wollen, sondern lediglich, wenn auch verbissen, ihre Bestimmungen einhalten müssen.

Da nichts zu machen ist, müssen wir alle in den Autos im Zollhof übernachten. Wir trinken in der Cafeteria des Zollhofes die letzten sechs Flaschen Bier, die es dort gibt, machen am Auto mit "Fingerfood" und Rotwein weiter, um die nötige Bettschwere bzw. Sitzschwere zu erhalten (und die Benutzung der dortigen Toiletten und den doch sehr speziellen Kaffee ertragen zu können).

Wir lernen einen polnischen Trucker kennen, der mit uns im Zollhof Wagen an Wagen steht. Die arme Socke aus Polen wartet dort schon seit sieben Tagen auf ein erlösendes Fax aus England. Trotz unserer Lage zerfließen wir vor Mitleid, geben ihm vier Flaschen Bier und für seine Kinder noch zwei Wichtelpakete mit. What a day ... and what a night!!!

Dienstag, 17. Mai 2005

Jetzt sind wir "schon" eine Stunde in der Ukraine unterwegs - nach insgesamt 16 Stunden Wartezeit an der Grenze. Als heute Morgen um 11:00 Uhr das erlösende Fax aus Kiew kam, ging dann alles ganz schnell. Wir durften die Grenze passieren. Hinter dem Schlagbaum auf der ukrainischen Seite stehen endlose Schlangen privater Pkws, die alle gen Westen wollen. Die harte Ostgrenze hat sich mit dem EU-Beitritt Polens nun hierher verschoben.

Die Straßen sind auf unserer Weiterfahrt nun noch mal um Klassen schlechter, die Leute deutlich ärmlicher, die Behausungen ebenso. Es gibt viele Storchennester und im Vergleich zum März wunderschönes, sattes Maigrün, gelbe Butterblumen auf den Wiesen, und der Regen hat zum Glück auch aufgehört.

Wir kommen gut voran, haben allerdings nach der letzten Nacht im Auto nicht mehr sehr viel Sitzfleisch. Da wir es sowieso nicht bis Odessa schaffen werden, wünschen wir uns rechtzeitige Quartiersuche. Wir werden fündig im Motel "BET" an der Hauptstrasse nach Vinnycia, wo wir zwei plüschige Doppelzimmer und eine spärlich möblierte, dafür aber mit Whirlpool ausgestattete und für eindeutige Zwecke vorgesehene (die benutzten Gläser und eine halbvolle Champagnerflasche stehen noch neben dem zerwühlten Bett) Suite beziehen. Das Restaurant im Garten hat viele kleine Häuschen mit vorgezogenen Gardinen, so dass keiner das Treiben hinter den Türen verfolgen kann, in denen das Essen serviert wird.

Nach herrlichem Duschen, leckerem Essen und kühlem Bier fallen wir gegen 23:00 Uhr in die durchgelegenen Matratzen und sinken in einen tiefen, seligen Schlaf.

Mittwoch, 18. Mai 2005

Um 8 Uhr ist Abfahrt. Die Sonne scheint, es ist warm, die Stimmung ist gut und es geht weiter gen Osten.

An einem Fischmarkt an der Straße machen wir Halt. Die verschiedenen geräucherten Fische, die in kleinen Hütten verkauft werden, geben schöne Fotomotive ab. Wir werden zum Probieren der Fischfrikadellen aufgefordert. Sie schmecken gar nicht schlecht, so dass wir einige für das nächste Picknick kaufen.

In the middle of nowhere werden wir plötzlich von einer Polizeistreife angehalten. Den Beamten missfallen anscheinend die Blaulichter auf den THW-Fahrzeugen. Sie sind wohl der Auffassung, wir würden uns, auch wenn wir sie gar nicht benutzen, damit ihre Hoheitsmacht anmaßen. Da hilft kein Reden, die Dinger sollen ab. Leichter gesagt, als getan. Auf dem kleinen Lkw sind die Blaulichter fest montiert. Schließlich können wir uns darauf verständigen, sie mit Klebeband zu überkleben und dürfen weiter.

Gegen Nachmittag sind wir dann auf der "Magistrale", der Hauptverbindungsstrecke zwischen Kiew und Odessa, die im letzten Jahr noch erhebliche Baustellen hatte und diesmal bis Odessa komplett fertig ist. Es ist eine nagelneue, tolle Autobahn und die Wagen rollen ruhig die letzten Kilometer bis Odessa.

Die Damen der Stadtverwaltung Odessa rufen inzwischen an und machen einen Treffpunkt mit uns aus, kurz vor der Stadtgrenze, an der Polizeistation. Um 18:30 Uhr dann das große Wiedersehen an der Wachstation. Alle sind sie gekommen und es ist auch derselbe Bus vom letzten Jahr mit dem Fahrer Grischa sowie Nella, Olga, Oxana und die neue Dolmetscherin Masha, die Tochter von Maria.

Wir fahren zusammen zum Zollhof und stellen dort den großen Lkw ab. Dann geht es gemeinsam zum traditionellen Hotel "Choznoye Moze", das "Schwarze Meer". Vom Zimmer aus hat man einen traumhaften Blick auf die Monastir mit den vergoldeten Kuppeln.

Wir sind glücklich, es - insbesondere nach der Nacht an der Grenze - nun doch tatsächlich bis Odessa geschafft zu haben.

Donnerstag, 19. Mai 2005

Es gibt ab 7:30 Uhr Frühstück. Pünktlich um 7:45 Uhr werden wir abgeholt und sind um 8:00 Uhr im Zollhof bei unserem Lkw. Nun geht der Papierkrieg von neuem los. Allerdings kümmern sich diesmal die Damen der Stadtverwaltung um diese Dinge und wir können die Wartezeit für ein Nickerchen im Bus nutzen. Dann geht es relativ schnell voran, gegen 9:00 Uhr können wir vor die entsprechende Lagerhalle fahren. Die Gabelstapler kommen zum Ausladen unter der Aufsicht eines Zollbeamten. Beim Anblick "unserer" Sachen - nach dem weiten Weg hier in Odessa angelangt - sind wir auch etwas stolz, wie viele gute Sachen wir doch letztendlich in diesem einen Jahr zusammengetragen haben. Der lange Sattelschlepper ist voller Krankenliegen, OP-Tischen, Krankenschränken, Betten, Instrumentarien, medizinischen Geräten, etc. und auch die Damen von der Stadtverwaltung sind total begeistert. Olga freut sich so, dass sie spontan zu Marlu kommt, und in schlechtem Deutsch sagt: Ich lieben Sie!

Von Irina`s Klinik (Entbindungsklinik Nr. 1) erscheint ihr 1. Oberarzt. Mit einem Filzstift malt er alles an, was er haben will und bei uns kocht langsam die Wut hoch! Es läuft ein eindeutiger Fall von korruptivem Verhalten ab. Nella ist befreundet mit Irina, Irina ist eine geschätzte Chefärztin. Mit Ach und Krach und Hilfe der Dolmetscherin Masha setzt Marlu durch, dass diejenigen Geräte, die nicht für gynäkologische Zwecke bestimmt sind, wie z.B. Narkose-Beatmungsgerät, Liegen usw. in das Klinikum Nr. 11, d. h. die Chirurgische/Neurochirurgische Klinik mit den Intensivstationen kommen. Es zeigt sich wieder, wie wichtig es ist, hier vor Ort zu sein und nicht nur einen unbegleiteten Transport loszuschicken.

Beeindruckt beobachten wir auch Olga von der Stadtverwaltung, die mit ihrem ganzen Charme und ihrer Freundlichkeit den Zollbeamten, der das Entladen zu überwachen hat, bezirzt und in ein Gespräch verwickelt, so dass er gar nicht mitbekommt, was aus dem Lkw alles ausgeladen wird.

Nach einer weiteren Stunde, die mit erneutem Papierkrieg für Nella und Olga vergeht, sind wir gegen 12:00 Uhr mit allem durch - wider Erwarten schnell!

Anschließend fahren wir direkt zum Klinikum Nr. 11. Andrej, Chefarzt der Chirurgie und Neurochirurgie, begrüßt uns in diesem Jahr total herzlich und freundlich.

Wir, d.h. bis auf unsere THW-Helfer, besuchen dort die Ambulanz und die neurochirurgische und die chirurgische Intensiv-Station. Marlu kann voller Freude feststellen, dass sich hier erstens durch Eigeninitiative einiges getan hat (die Wände sind gestrichen und die Flure und Böden verbessert) und dass alle unsere Apparate, vor allem die Hellige Monitore, sechs Stück, aufgebaut auf der Intensivstation stehen. Man nennt sie hier die "Raketen aus Deutschland". So begeistert sind sie über die Technik. Und das Personal trägt zum Teil unsere grüne OP-Kleidung, die wir letztes Jahr mitgebracht hatten. Richtig gut!

 

Auch Erich, der angesichts der doch recht gut gekleideten Stadtbevölkerung kurzzeitig Bedenken geäußert hatte, ob unsere Hilfe hier noch nötig ist, ist nach einem Blick in die Intensivstation sprachlos und meint nur: "Wir machen weiter!"

Uns wird auch wieder klar, dass unsere Bedenken, wenn eine Liege einen Riss hat oder ein Rollstuhl, der hierher gebracht werden soll, vielleicht nicht mehr ganz so neu aussieht, völlig überflüssig sind. Das, was hier existiert, ist so alt und in einem so schlechten Zustand, dass alles, was wir in diesem Jahr mitgebracht haben, eine deutliche Verbesserung, teilweise sogar schon richtig Luxus ist. Es fehlt hier einfach an allem!

Auch noch zu erwähnen, für uns unvorstellbar, ist, dass man hier in ein Krankenhaus kommt und sich nicht nur Sorgen um seine Gesundheit machen muss, sondern auch noch Gedanken darüber, was man überhaupt zu Essen bekommt. Es ist hier nämlich nicht üblich, vom Krankenhaus verpflegt zu werden, sondern man muss sich darauf verlassen, eine Familie zu haben, die einen im Krankenhaus mit Essen versorgt. Wir fragen uns, was diejenigen machen, die völlig alleine sind.

Gegen 17:00 Uhr werden wir am Hotel abgesetzt und ziehen dann ohne unsere Stadtverwaltung und unseren Fahrer Grischa zu Fuß vom Hotel in die Altstadt. Die Mädels und Damen dieser Stadt sind so freizügig angezogen, dass man meinen könnte, die ganze Stadt sei ein einziger Red-Light-District. Aber das scheint hier der allgemeine Modegeschmack zu sein: sehr, sehr freizügig und körperbetont, wenn nicht - nach unseren Vorstellungen - geradezu obszön. Das macht auch sicherlich den Reiz dieser Stadt für viele Männer aus ... und wird leider auch durch die Tatsache bestätigt, dass diese Stadt die höchste Aids-Rate in Europa hat.

Freitag, 20. Mai 2005

Wir werden um 9:30 Uhr abgeholt - für den Empfang im Rathaus. Der Bürgermeister selbst ist nicht da, aber die neue stellvertretende Bürgermeisterin, seit einem Monat erst im Amt, erwartet uns. Da wir noch etwas Wartezeit haben, sollen wir uns in der Eingangshalle dieses imposanten Rathauses einige Vitrinen anschauen, die u.a. auch diverse Orden auch für humanitäre Hilfe beinhalten. Oxana sagt: "Guckt euch mal diese Orden an, irgendwann kriegen wir es hin, dass ihr auch noch so einen bekommt."

Dann werden wir in den 1. Stock geleitet und siehe da: Fernsehkameras, Presse und mehrere Reporter und Fotografen stehen um uns herum. Unsere THW-Männer sind übrigens richtig schick gekleidet in ihrer Ausgeh-Uniform mit grauer Hose, hellblauem Hemd und jeweils einer unterschiedlichen THW-Krawatte. Dann werden wir zu der stellvertretenden Bürgermeisterin geleitet, eine sehr ernste Frau. Links neben ihr sitzt Irina, die Gynäkologin, rechts von ihr die Leiterin des Gesundheitsressorts, auch selber Ärztin. Betont ernst, keine Miene verziehend, leiert dann die stellvertretende Bürgermeisterin Lobeslieder auf die Stadt Odessa herunter, der schönsten Stadt am Meer und dem was Odessa in der Geschichte geleistet hat und heute noch leistet, der Wissenschaft, der Forschung, der Kultur und so weiter. Dann bekommt Marlu überraschenderweise als 1. Frau, die einen solchen Transport nach Odessa organisiert und geleitet hat, einen Orden! Tja, damit hatte wohl doch keiner von uns gerechnet und obwohl dabei viel Blabla und Show ist, finden wir es sehr nett. Unten in der Halle warten noch mal Fernsehen und Reporter auf uns und wir müssen noch einmal eine Erklärung über IceFlower, die Geschichte und die Zusammenhänge dieses Transportes abgeben.

Leider verpassen wir es an diesem Abend uns im russischen Fernsehen anzuschauen. Wir sollen angeblich dreimal in irgendwelchen Lokalnachrichten erscheinen. Bis heute haben wir leider auch keine Zeitung gefunden, in der über uns berichtet wurde.

Dann geht es weiter zum ersten Waisenhaus zur Verteilung von Wichtelpaketen. Das sind die kleinen Waisenkinder vom letzten Jahr und es ist wie damals auch: Es wird vom Auto aus verteilt und wir dürfen die Freude beim Auspacken miterleben.

 
 

Auch hier hat innerhalb eines Jahres eine enorme Veränderung stattgefunden. Das ganze Haus ist von innen gestrichen, renoviert und liebevoll mit Bildern bemalt worden. Innerhalb der hier vorhandenen Möglichkeiten bemüht man sich, etwas zu verändern.

Im Gegensatz hierzu ist der Besuch des nächsten Heimes deutlich ernüchternder: Hier sind die sozial schwächsten Kinder: Straßenkinder, Waisenkinder, aber auch Kinder verwahrloster Eltern. Das ganze Heim sieht anders aus, die Kinder sehen ärmlicher aus. Auch die Grundstimmung dort ist eine ganz andere und die Freude über die Pakete ist auch eine andere. Hier haben wir das Gefühl, dass unsere Aktion mit den Päckchen noch einen viel höheren Stellenwert für die einzelnen Kinder hat, die bislang wenig Liebe erlebt haben, keine persönlichen Dinge besitzen und beim Auspacken eine unbändige Freude zeigen.

 

Danach fahren wir zu Irinas Entbindungsklinikum Nr. 1. Dort wartet Irina in ihrem neuen Konferenzraum mit einer Riesentafel auf uns, mit den tollsten Köstlichkeiten der Ukraine: Lachs, Kaviar, Salate, Zungenwurst, Kräuter, Champignons, kleine Frühjahrskartoffeln, gegrilltes Fleisch, Fisch, Bier, Wein, Cognac - man kann es überhaupt nicht beschreiben. Die Gastfreundschaft ist einmal wieder sehr eindrucksvoll!

Wir besichtigen dann die Klinik von Irina. Diese Klinik ist ein Musterbeispiel für gutes Organisationstalent und Beziehungen: Eine tiptop gestaltete, frisch gestrichene, renovierte, liebevoll eingerichtete Klinik mit Zwei-Bett-Zimmern. Auf der Neugeborenen-Intensiv-Station liegen vier Kinder, einmal Zwillinge, ein kleines Kind mit 1.300 g, dessen Bruder mit 1.200 g wegen Herzproblemen in eine andere Klinik verlegt wurde, und dann hat dieser kleine Kerl ganz fürchterlich angefangen zu brüllen. Hat seinen Bruder nicht loslassen wollen... Irina wickelt "ihre Babys" übrigens immer noch wie Mamuschkas - ein Diskussionsthema, das traditionell jedes Jahr dazu gehört! Auf der anderen Seite ist man hier aber auch sehr erfinderisch. Kurzerhand wird eine leere Wasserplastikflasche zum Sauerstoffzelt umgebastelt, da man eben nichts anderes hat.

Der OP sieht auch schon deutlich besser als vor zwei Jahren aus. Marlus Anästhesiekollege, der sich damals fast weinend über unsere Babylogs gefreut hat, trägt unsere grüne OP-Kleidung.

Beeindruckend ist hier auch Irinas großartige Führungspersönlichkeit. Auf jeder Station, in jeder Abteilung stellt sie mit Herz und Wärme einen ihrer Mitarbeiter/innen vor und äußert sich jeweils lobend über die hervorragenden fachlichen Kenntnisse und die großartige Menschlichkeit dieser Personen.

Ein bezauberndes Zwischenerlebnis: Unter einem der Balkone dieses alten Gebäudes befindet sich ein Vogelnest, in dem zur Zeit drei Eier bebrütet werden. Die ganze Klinik beobachtet sie. Zwei Eier waren schon heruntergefallen. Man hat diese beiden Eier vorsichtig aufgehoben, den Boden unter ihrem Nest verstärkt und beobachtet nun die weitere Entwicklung. Gar nicht so dumm von diesen Vögeln, sich ausgerechnet an einer Entbindungsklinik ihre Brutstätte zu suchen!

Inzwischen ist es 17 Uhr geworden. Wir machen noch eine kleine Stadtrundfahrt und schlendern etwas durch die Straßen. Auf dem Weg gehen wir von der Potemkin-Treppe zum historischen Rathaus, an dem heute morgen unser Empfang war, vorbei an der Kanone, die Richtung Meer zeigt und über die die Odessier ihre Witze machen: früher, als die Seeleute nach langer, langer Zeit zurückkamen, haben sie ihre Frauen gebeten, dreimal diese Kanone zu umrunden. Wenn sie nicht geschossen hat, war das der Beweis, dass ihre Frauen ihnen treu geblieben sind. Naja! Weiter geht es zwischen wunderschönen alten Gebäuden, gut renoviert, die überwiegend Museen beherbergen. Welch ein Kontrast zu den übrigen Gebäuden, in denen die Bevölkerung von Odessa lebt.

 

Samstag, 21. Mai 2005

9:00 Uhr Abfahrt zu zwei weiteren Waisenhäusern. Diesmal sind es Heime, in denen nur Straßenkinder untergebracht sind. Auch hier ist die Freude über unsere Wichtelpäckchen groß. Als Dankeschön bekommen wir selbst gebastelte Armbändchen und Anstecker von den Kindern. Einige Kinder singen uns zum Abschied noch ein paar ukrainische Lieder vor.

 

Die Sonne scheint, es sind sicherlich 25°C und nun ist es alles geschafft. Alle wollen auch ein bisschen frei haben, die letzte Aktion unseres "Pflichtprogramms" ist nun abgehakt. Wir sind zufrieden und glücklich, dass wir bis zum Schluß alle zusammen diese Aktionen durchgeführt haben.

Heute sind wir alle ziemlich müde und fertig. Der Himmel wird immer bedeckter, es ist richtig schwül. Aber zum Hinlegen bleibt keine Zeit, um 18:00 Uhr schließt der Pryvus, der berühmte, riesengroße Markt und das ist unser nächster Programmpunkt, nachdem wir uns von den Damen und Grischa nochmals ganz herzlich verabschiedet haben. Bis zur Abfahrt am Montag haben wir jetzt frei!

Wir ziehen also gemeinsam über den Pryvus. Die Fleischerhalle, die Käsehalle, die Gemüsehallen und die vielen, vielen Stände, an denen die Menschen all die Dinge zum Verkauf anbieten, die sie in ihren kleinen Gärten und auf den Äckern am Rande der Stadt angebaut haben.

 
 

Anschließend gehen wir zum Monastir und in die Kirche von Pater Arkadi. Sie ist inzwischen fast fertig renoviert und sieht wunderschön aus. Es findet gerade die Abendmesse statt. Wir bleiben ein paar Minuten dort und lassen die Atmosphäre und den wunderbaren Gesang in diesen herrlichen Räumen auf uns wirken.

Hunger hat keiner nach diesem reichlichen Mittagessen am Nachmittag, aber Durst! Also gehen wir noch einmal in die Altstadt und verbringen dort einen gemütlichen Abend im Freien.

Sonntag, 22. Mai 2005

Wir haben frei! Kurz nach 9:00 Uhr fahren wir mit einem kleinen Minibus vom Bahnhof aus zum 7 km entfernten größten Containermarkt Europas. Die Fahrt kostet 2 Griwna pro Person, d.h. ca. 40 Cent. Containermarkt heißt, dass eng in Basaren wie in Istanbul oder Bangkok viele Sachen, wie Kleidung, Lederwaren, alles aus der Musik- und Elektronikindustrie, Teppiche, Geschirr, Küchensachen etc. aus Schiffscontainern heraus angeboten werden. Über diesen Containern ist eine weitere Reihe Container, in denen die Ware gelagert ist. Man kann überhaupt nicht abschätzen oder beschreiben wie groß das Ganze ist, und man kann sich gut verlaufen. Und in diesem Gewimmel treffen wir als erstes auf Olga! Odessa ist halt doch nur ein Dorf…

Für eine gewisse Zeit macht es Spaß durchzugehen, sich alles anzuschauen, nach zwei Stunden reicht es aber wirklich. Man kann auch die Masse an Menschen kaum noch ertragen und den Anblick dieser vielen Billigklamotten.

Die Sonne kommt wieder durch und wir fahren gegen Mittag zurück. Noch ein kurzer Abstecher ins Kaufhaus gegenüber unserem Hotel. Ich glaube es heißt "Universal", IceFlower nennt es seit Jahren "Karstadt". Dann beginnt das große Umpacken und Vorbereiten. Das Auto wird "entkernt", Abschlussbuchhaltung und Abrechnung mit Klaus.

Gegen 17:00 Uhr fahren wir mit zwei Taxen nach Arcadia. Das ist der Strand von Odessa, sozusagen die Travemünder Promenade. Hier ist ein herrlicher Sandstrand, viele Leute sind noch draußen, auch etliche noch im Wasser. Man läuft eine Promenade herunter mit vielen Ständen. Ein alter Mann sitzt auf einer Bank und häkelt Hüte, die er verkauft. Ein anderer spielt Akkordeon. Es ist einfach eine schöne Atmosphäre. Dazu ist es ein lauer Sommerabend. Das Meer liegt vor uns. Urlaubsstimmung!

Als Dankeschön für die tolle Unterstützung unserer vier großartigen Helfer spendieren wir ein Abschiedsabendessen. Wir speisen hervorragend mit Salat und Meeresfrüchten vorweg, Barbecue von Fleisch und Fisch im Anschluss. Als Dessert ein kleiner Spaziergang am Strand - barfuß - herrlich! Wir gehen auf einem kleinen Pier ins Meer hinaus, so dass wir alle sagen können: Wir sind einmal im Schwarzen Meer gewesen.

Als letztes Abenteuer die Kamikaze-Rückfahrt in zwei Taxen. Die beiden liefern sich eine Art Formel-1-Rennen mit bis zu 120 km/h durch die Stadt. Wir überlegen, dass wir beim nächsten Mal auf Russisch Schilder bei uns führen, dass man uns im Falle eines Unfalles unbedingt in die neue Privatklinik und nicht in das Krankenhaus Nr. 11 bringt. Zu allem Überfluss untersagt uns der Taxifahrer strikt, uns anzuschnallen, warum auch immer...

Wir haben es überlebt. Nun ist es kurz vor 22:00 Uhr. Die Männer müssen morgen früh um kurz nach 3:00 Uhr aufstehen. Aber in unserem Zimmer gibt es noch einen letzten Abschiedsdrink mit unseren letzten zwei Flaschen Weißwein aus Deutschland. Dann erstellen wir noch eine "to-do"- und eine "Verbesserungs"-Liste für die nächste Tour, über der wir gegen 1:00 Uhr einschlafen.

Hiermit ist unsere diesjährige IceFlower-Fahrt beendet. Wir alle finden, dass es eine gelungene, sinnvolle und befriedigende Tour war, von der wir hochmotiviert zurück nach Deutschland kommen, um weiterzumachen.

Dasswidanja!

P.S.: Noch mehr Fotos von unserer IceFlower-Tour 2005 gibt es auf der Internet-Seite des THW zu sehen (www.thw-hamburg-nord.de).